Hannelore - die erste Liebe

Sie hieß Hannelore und war die Tochter eines Fleischhauers aus einer schwäbischen Kleinstadt.

Dass ich sie kennen lernen durfte verdankte ich meinem Onkel, der mit 53 Jahren den Bund fürs Leben schloss. Er hatte seine Braut eben in dieser Stadt kennen und lieben gelernt. 

Hannelore war eine von vielen Verwandten der Braut und sie war die mir zugeteilte Brautführerin. Und sie war schön; sehr schön sogar. Blonde Haare, mit weißen Blumenblüten umkränzt, offene, lachende Augen und ein süßes Grübchen am Kinn. Letzteres ist wohl eines der schönsten Merkmale, die eine Frau haben kann. Um ihren Hals trug sie ein Medaillon, von einem Samtband gehalten, von dem ich mir wünschte, dass eines Tages mein Konterfei drinnen Platz finden möge. Ihre Figur war von schlankem Wuchs und ihre Hände waren so feingliedrig, wie nur die Hände einer Elfe sein können. Hannelore war eine Elfe; und ich mutierte im selben Augenblick, da ich ihrer gewahr wurde, zum Elfenkönig. Sie hatte sicherlich auch Flügel aus reiner Seide, die unter ihrem weißen Kleid verborgen lagen…

Es war der Hochzeitstag von Onkel Willi, als ich sie zum ersten Mal sah. Als ich ihr vorgestellt wurde, fühlte ich, wie mir das Blut in den Kopf stieg, wie meine Knie leicht nachgaben und wie mein munteres Mundwerk, das ich sonst an den Tag legte, auf seltsame Art und Weise sich in eine stille Ergriffenheit zurück zog. Was mein Mund in diesem Augenblick nicht mehr vermochte, übernahmen meine Augen. Sie sprachen in einer leuchtenden Manier von Begeisterung, von unbändiger Freude und von - bis dahin nie gekannten – Gefühlen, die zu benennen mir das Vokabular fehlte. Und das Allerschönste; Hannelore musste es wohl ähnlich ergangen sein. Wir redeten aufeinander ein wie zwei Wasserfälle. Hannelore mit dem Mund und ich eher mit den Augen. Und das war wunderbar so. Schwäbisch ist keine Sprache, es ist Musik ohne Instrumente; es ist himmlischer Klang. Ich, der ich aus dem Badischen kam, und der nie seine enge Heimat verlassen hatte, hörte zum ersten Mal diesen linguistischen Zauber. Es war einfach nur schön; wunderschön.

Wir wichen einander an diesem Tag nicht mehr von der Seite. Wir nahmen die anderen Hochzeitsgäste gar nicht mehr wahr. Es gab nur noch uns beide. Als der Tag sich neigte und der Abschied schon bedrohlich nah war, legte sich eine große Traurigkeit auf unser beider Gemüt. Wir gingen in den Garten, direkt hinter dem Haus und wir versprachen einander zu schreiben. Und in den großen Schulferien würden wir uns ja wieder sehen…

Und wirklich, schon wenige Tage danach kam der erste Brief. Und was für ein Brief. Auf feinstes Büttenpapier mit Tinte geschriebene Worte. Sie sprachen von schönen Dingen, so schön, wie noch nie zuvor jemand mit mir gesprochen hatte. Die Mutter sagte auch immer wie-der einmal etwas Liebes oder Schönes; aber das von Hannelore, das war etwas ganz Anderes. Und eine Schrift, wie gemalt, so schön. Das stellte allerdings ein großes Problem für mich dar; denn meine Schrift war eine Beleidigung für das menschliche Auge. Ich gab mir die größtmögliche Mühe, aber das Ergebnis; na ja…

Hannelore schrieb in regelmäßigen Abständen. Woche um Woche ein neuer Brief. Immer auf feinstem Büttenpapier, mit allerschönster Schrift und mit Tinte. So rosarot wie die seidengefütterten Kuverts waren, so rosarot war auch mein Gemüt in jenen Tagen. Ich schwebte auf Wolke sieben, viele, viele Wochen und Monate, bis zu jenem schicksalhaften Tag, als wieder ein Brief der anbetungswürdigen Jungschwäbin kam. Kein feinstes Büttenpapier, keine Schönschrift, keine Tinte, kein rosaseiden gefüttertes Kuvert! Stattdessen normales weißes Papier, ein katastrophales Schriftbild – ähnlich dem meinen – und mit Bleistift geschrieben. Das Kuvert war auch nicht rosafarben seidig gefüttert. Der Inhalt gab mir dann den Rest. Da war die Androhung einer bevorstehenden Hochzeit („…vielleicht geht es und auch einmal so wie Tante Eva und Onkel Willi“), die bei mir das nackte Entsetzen zur Folge hatte. Für eine Heirat fühlte ich mich damals einfach noch nicht reif genug, und der sprichwörtliche Frei-heitsdrang den man den Schütze-Geborenen nachsagt, war wohl schon in jungen Jahren bei mir vorhanden. Ich brach den Kontakt zu Hannelore darauf hin sofort ab…

Was damals geschehen war, kann ich heute nur mutmaßen. Die vielen schönen Briefe (…auf feinstem Büttenpapier, usw.) hatte Hannelore nicht selbst geschrieben. Das waren Auftragsarbeiten. Eine Verwandte, eine Angestellte im elterlichen Fleischereibetrieb oder irgendwer sonst. Der letzte, fatale Brief, das war das einzige Original, das ich von Hannelore erhalten hatte. Entweder hatte der „Ghostwriter“ keine Zeit oder keine Lust mehr oder Hannelores Ungeduld hieß sie diesen Brief verfassen. Wie auch immer, es hatte schlimme folgen: die Welt eines jungen Menschen stürzte ein und ein bis dahin aufgebautes Vertrauen in die holde Weiblichkeit bekam einen argen Knacks! 

Ich weiß zwar nicht, was aus Hannelore geworden ist, obwohl ich das schon gerne wüsste, aber ich hoffe sehr, dass sie ein ebenso erfülltes Leben führt wie ich auch. Ich wünsche es ihr von ganzem Herzen. 

Wenn ich an jene Zeit zurück denke, an diese erste Begegnung mit einem Gefühl, das man wohl Liebe nennt, so meine ich, dass es wohl ebenso viele Arten von „Liebesgefühlen“ gibt wie Sterne am Himmel. Die einen strahlen hell, die anderen weniger, und manche verglühen auch ganz schnell. Aber eine Welt ohne Sterne wäre um vieles ärmer…   

 

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Der Berg ruft

Es war noch finster, als wir vor die Hütte traten. Der Weg  von der  Hütte weg verlief sofort steilansteigend. Wir  hatten  uns  angeseilt, denn  die letzten Tage hatte es heftig geschneit und ein ausgetretener Pfad war nicht erkennbar. Schon der Aufstieg zur Hütte hatte sich als schwierig erwiesen, weil durch einige abgegangene Lawinen der Weg ebenfalls nicht erkennbar war. Klemens, der Senior der Truppe hatte sich das Knie verletzt. Er war ausgerutscht und auf eine – dicht unter der Schneedecke verborgene – Steinplatte geschlagen. Das Knie blutete stark und musste verbunden werden. Ein ordentliches Nachtmahl, ein paar Stamperln Schnaps, und der Vorfall war vergessen.

Wir hatten Stirnlampen umgeschnallt, um weniges ein bisschen von den Fußabdrücken unseres Vorgehers im Schnee zu erkennen. Ansonsten zauberte das Mondlicht ein Szenario aus Berg, aus Schnee und aus schemenhaften Gestalten, die wortlos durch die Nacht stapften. Zum Denken war keine Zeit. Man war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht auf das Seil des Vordermanns zu steigen und sich dessen Tempo anzupassen. Der Atem ging schwer. Wir waren ja doch auf dem Weg zum Gipfel eines starken Dreitausenders. Die Hütte lag schon sehr hoch, und die Luft war spürbar dünner als unten im Tal. Wobei der Ausgangsort allein schon auf 1600 Metern lag.

Wir kamen gut voran, d.h., die anderen kamen gut voran. Ich nur bedingt, weil zu der Erschwernis des Neuschnees bei mir noch 107 Kilogramm Lebendgewicht hinzukamen, die ich zu schleppen hatte. Unten im Tal kein Problem; aber hier oben...

Bei jedem Schritt, bei dem die anderen „Leichtgewichte“ ca. 15 bis 20 Zentimeter einsanken, sank ich bis zu den Knien im Schnee ein. Und das sehr oft; viel zu oft. Der Tag begann sich über Schnee und Eis zu ergießen; es wurde zusehends heller. Schön war es hier oben. Still, wenn man von den schweren Atemzügen der Männer absah.

Ich musste nun immer öfter stehen bleiben. Meine beiden Kameraden, die mit mir am Seil gingen, hatten Verständnis. Es war ihnen ja nicht entgangen, wie kräfteraubend mein Einsinken in den Schnee war. Ich erwog aufzugeben. Bernd, der wohl konditions-stärkste der Truppe, bot mir an, sich ebenfalls mit einem Seil an mich zu binden, um mich quasi den Berg hinauf zu ziehen. Das lehnte ich vehement ab. So wollte ich den Berg nicht bezwingen. Das würde ja gegen jede Bergsteigerehre stießen. Ich weiß gar nicht, ob es so etwas überhaupt gibt? Aber vermutlich schon...

Unter Aufbietung meiner letzten Kräfte stapfte  ich tapfer weiter. Schritt–um–Schritt, Atemzug–um–Atemzug, bis es irgendwann nicht mehr ging. Wenn man in einer solchen Höhe mehr Sauerstoff verbraucht, als der Körper produzieren kann, dann ist das nicht ungefährlich. Daher beschloss ich, den Berg zum Sieger zu erklären und aufzugeben.

Jetzt hatten wir ein Problem: Wer sollte mich beim Abstieg zur Hütte begleiten? Es ist sicherlich nicht lustig, wenn man sich lange Zeit auf eine solche Tour vorbereitet hat, und muss dann – den Gipfel schon fast vor Augen und bei herrlichstem Wetter – umkehren. Das ist schon nicht lustig für den Betroffenen, und noch weniger für den potentiellen Begleiter.

Um eine Diskussion darüber zu vermeiden, brachte ich klar zum Ausdruck, dass ich keinen Begleiter brauche. Hatte ich auch nicht genug Kraft den Berg hinauf zu gehen; hinunter reichte sie allemal. Ich versicherte meinen Kameraden, dass sie mich unbesorgt alleine absteigen lassen könnten. Der Weg war nicht zu verfehlen und ich war guter Dinge. Wir wechselten noch das eine oder andere Wort, und dann trennten wir uns. Ich beneidete meine Kameraden, die dem Gipfel weiter entgegen stiegen. Ich winkte ihnen noch eine Zeit lang nach und dann machte ich mich auf den Rückweg.

Wie hatte ich mich auf diese Tour vorbereitet: Waldlaufen und Nikotinverbot schon einige Wochen zuvor. Und alles umsonst...

Ich musste an Sonni denken. Sonngard, wie sie mit vollem Namen hieß, war meine Ehefrau. Wir waren ein gutes Jahr verheiratet und wir erwarteten unser erstes Kind. In ca. zwei Wochen sollte es soweit sein...

Schritt–für–Schritt stieg ich den Berg hinunter. Die Sonne stand inzwischen schon höher und hatte die Berge in ein sanftes Licht gehüllt.

Mein Gott, in zwei Wochen sollte ich Vater werden

Wir wussten nicht, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Ich hatte mir ein Mädchen gewünscht; Sonni war es egal. Hauptsache gesund. Das war natürlich auch meine Meinung; aber das behaupten wohl alle werdenden Eltern.

Um Gottes Willen; was, wenn mir etwas zustößt? Meine Kehle schnürte sich zu und ich fühlte Beklemmung aufsteigen. Das Kind käme auf die Welt, und ich hätte es noch nicht einmal gesehen...

Tränen rannen mir über das Gesicht. Das Kind wäre Halbwaise, nur weil sein Vater nicht verzichten wollte...

Aber das stimmte so ja nicht. Ich hatte Sonni sehr wohl angeboten, bei ihr zu bleiben und nicht auf die Bergtour mit zu gehen. Sie hatte aber darauf bestanden, dass ich mit gehe. Sie fühlte sich wohl und Schwangerschaft sei ja schließlich keine Krankheit...

Tränen rannen mir über das Gesicht und ich fühlte alles Elend dieser Welt...

„Lieber Gott, mach, dass ich heil hinunter komme und dass ich meine Sonni gesund wiedersehe. Und beschütze unser Kind!“, begann ich in diesem Augenblick zu beten.

Die Spuren im Schnee, die wir beim Aufstieg hinterlassen hatten, verschwanden hinter einem dichten Schleier von Tränen. Heulkrämpfe schüttelten mich heftig. Ich setzte mich in den Schnee und ließ meinem Seelenzustand freien Lauf...

Nach und nach wurde ich ruhiger. Ich sprach mir Mut zu und die Aussicht, mit Sonni bald wieder vereint zu sein, tat ihr übriges.

Ich stand auf und setzte – mit voller Konzentration – meinen Abstieg fort.

Und mit jedem Schritt wuchs auch meine Zuversicht. Nach einer geraumen Weile vernahm ich plötzlich Musik. Es war Flötenmusik.

Obwohl noch weit entfernt von der Hütte, sah ich schon bald den Künstler. Marcel, der Hüttenwirt, stand vor seiner Hütte und spielte auf einer kleinen Flöte. Er stand zur Bergseite abgewandt, und ließ wunderschöne Töne – wie auf Wolken sanft gebettet – hinunter ins Tal gleiten. Und so konnte er mich nicht herankommen sehen. Er hätte mich wohl auch nicht bemerkt, hätte er seine Musik dem Berg zugewandt gespielt. Er war zu sehr versunken in sein Spiel...

Die Melodie war mir unbekannt; aber sie gefiel mir sehr. Sie war für mich wie ein Regenbogen, der mir den Weg nach Hause weist, und von dem ich sicher geleitet werde. Ich rutschte auf ihm zurück ins  Leben...

Zwei Wochen später wurde ich Vater eines Mädchens. Stefanie war das schönste Neugeborene auf der Welt. Viel schöner und viel kostbarer als alle Berge dieser Erde zusammen...

 

 

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Getreu bis in den Tod

Wir sind heute hier zusammen gekommen, um Franz Edelmann die letzte Ehre zu erweisen.

 Mit diesen Worten eröffnete Pastor Krämer die Beerdigungs-zeremonie. Die beiden Schwestern Emma und Hannelore wohn-ten der Feier bei, denn bei dem Verblichenen handelte es sich um einen Schulkameraden von Emma, der älteren der beiden Schwestern.

 Die Trauergemeinde war nicht all zu groß, denn an diesem Tag war es sehr kalt und außerdem lag viel Schnee. Die nächsten Verwandten, die Schulkameraden und Freunde von Franz Edelmann, die Kameraden von der Freiwilligen Feuerwehr, die Feuerwehrkapelle, bei der Vater und Sohn Mitglieder waren, und die „Berufsfriedhofgeher“, d.h.. ältere Fräuleins, die damit ihrem täglichen Einerlei eine willkommene Abwechslung gönnten, gaben dem Toten das letzte Geleit.

Dem Herrn über Leben und Tod hat es gefallen, unseren Bruder Franz viel zu früh zu sich zu nehmen...

Ja, das stimmte. Franz war erst 23 Jahre alt, als der Unfall passierte. Er war mit dem Traktor umgekippt und von diesem erschlagen worden. Franz war eines von fünf Kindern und von den Buben war er der älteste. Er war – wie der Vater und davor auch schon der Groß-vater – in der elterlichen Landwirtschaft tätig. Maria, die Schwester – sie war ein Jahr älter als Franz – half der Mutter im Haus. Sie litt – ebenso wie die Mutter – am stärksten unter dem plötzlichen Verlust. Dem Vater ging es auch sehr nahe; aber er zeigte es nicht so. Das Leben als Bauer ist hart und macht wohl auch den Menschen mit der Zeit hart gegen sich selbst.

Seine Eltern haben ihn mit viel Liebe groß gezogen und im Kreise der Familie war er zu einem jungen, hübschen und kräftigen  Burschen heran gewachsen, dem das Leben offen stand...

Jung und kräftig? Ja, das stimmte. Aber hübsch oder gar schön. Das fand nun Hannelore etwas stark übertrieben. Zugegeben, man soll Toten nichts Schlechtes nachsagen; aber lügen sollte man auch nicht...

Hannelore hatte bemerkt, dass Emma mit den Tränen kämpfte.

Sie hatte volles Verständnis für die Schwester. Wenn man so viele Jahre gemeinsam die Schulbank gedrückt hatte, das schweißte zusammen...

Und dann kommt der Tag der Ernte. Der Schnitter Tod nimmt seine Sense und fährt über die reife Frucht. Und wir wissen nicht Ort, noch Stunde, wo der Tod seine Ernte einbringt...

„Etwas sehr geschwollen für meinen Geschmack“, dachte Hannelore still bei sich; aber der Herr Pastor ist halt ein Schwärmer. So zumindest bezeichneten ihn seine Schäfchen im Ort. Und Hannelore war dies schon im Konfirmandenunterricht aufgefallen. Pastor Krämer war ein durch und durch romantischer Mensch und dementsprechend war auch seine Ausdrucksweise.

Aber was war das? Emmas Trauer war mehr geworden. Dicke Tränen rannen ihr über das Gesucht.

„Du lieber Himmel!“, fuhr es Hannelore durch den Kopf, „Emma wird doch nichts mit Karl gehabt haben...“

Gerade jetzt ist es wichtig, dass wir im Glauben verhaftet bleiben; gerade jetzt ist der Augenblick, wo wir uns dem Herrn bekennen müssen...“

„Emma und Franz; wer hätte das gedacht...“

Hannelore war entsetzt. Wenn das die Mutter wüsste...

Lasset uns gemeinsam unseren Glauben bekennen: Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erden...

„Wie so habe ich das nicht bemerkt; warum hat Emma nie ein Wort darüber gesagt?“

Hannelore schielte zu Emma hinüber und sah in deren verweintes Gesicht. Zu gern hätte sie die Schwester einiges gefragt; aber das ging nicht. Die beiden standen doch sehr nahe beim Grab und ein Tuscheln wäre unweigerlich aufgefallen.

Wir wollen nun den Leichnam der Erde übergeben. Von Staub bist du gemacht, und zu Staub sollst du wieder werden...“

Die Leichenträger senkten den Sarg behutsam in die Erde, die Feuerwehrkapelle intonierte das Lied vom guten Kameraden und ein allgemeines Schluchzen umrahmte diesen bewegenden Moment.

Auch Hannelore stiegen jetzt die Tränen in die Augen. Der Franz war ja doch noch viel zu jung zum sterben. Aber was machte Emma? Das waren nicht mehr die Tränen einer bloßen Schulkameradin; das waren die Tränen einer Geliebten. Jetzt bedauerte Hannelore die Schwester doch sehr. Gut, sie waren nicht immer einer Meinung und sie stritten sehr viel. Und Emma war eifersüchtig auf Hannelore, weil die Mutter das Nesthäkchen den anderen Geschwistern vorzog; aber dafür konnte Hannelore ja nichts. Und sie fand es auch nicht richtig, dass die Mutter immer auf Emma herumhackte. Aber jetzt brauchte Emma die ganze Liebe und Hilfe der Schwester.

Hannelore wandte sich Emma zu um sie in den Arm zu nehmen. Sie wollte ihr bedeuten, dass sie den Schmerz über den Verlust des Liebsten mit ihr teilte...

Bevor Hannelore Emma auch nur berühren konnte, funkelte diese ihre Schwester mit ihren dunklen Augen an, so, als wolle sie ihr unmissverständlich bedeuten: „Fass mich ja nicht an!“

Nun verstand Hannelore überhaupt nichts mehr. Wie konnte man nur so stur sein? Oder hatte Emma vielleicht Angst, die umstehenden Trauergäste könnten sich einen Reim auf die Reaktion von Emma machen?

„Ja, das wird es sein!“, dachte Hannelore und ließ von Emma ab.

Gehet nun hin im Frieden des Herrn. Der Herr segne und behüte Euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über Euch und sei Euch gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht auf Euch und schenke Euch seinen Frieden. Amen!“

Die Trauerfeier war zu Ende. Die beiden Schwestern hatten es unterlassen den Hinterbliebenen zu kondolieren. Zumindest Emma. Sie war nach dem „Amen“ des Herrn Pastors fluchtartig davon gestürzt und Hannelore war ihr gefolgt. Das ganze war Emma doch wohl sehr an die Nieren gegangen. Und sie konnte noch nicht einmal darüber reden; mit wem auch?

Mutter hätte sie geohrfeigt und die lieben Geschwister waren nicht wirklich vertrauenswürdig...

Hannelore versuchte Emma auf dem Heimweg anzusprechen:

Willst du mit mir darüber reden?“, fragte sie Emma behutsam.

Lass mich in Ruh!“, fauchte Emma die Schwester an. „Lass mich bloß in Ruh!

Sie waren inzwischen zu Hause angekommen.

Die Mutter sah ihre beiden Mädchen an und sie sah die tränenverquollenen Augen ihrer Tochter Emma, die leise vor sich hinweinte...

Wie siehst du denn aus?“, fragte sie in einem leicht entsetzen Tonfall.

Emma sah der Mutter ins Gesicht; konnte aber nicht antworten.

Die Mutter fragte abermals; aber immer wenn Emma antworten wollte, war der Hang zum Weinen größer als zum Reden...

Die Mutter wandte sich Hannelore zu um Klarheit zu erhalten:

Kannst du mir sagen, was mit Emma los ist?“

Nun befand sich Hannelore in einer argen Zwickmühle. Die Schwester nicht verraten, das war eine Sache. Die Mutter anlügen – eine andere.

Außerdem konnte sie dem festen Blick der Mutter nicht lange standhalten.

Es ist“, begann Hannelore, „es ist“, stotterte sie weiter, „es ist

Und bevor sie die unheilvolle Botschaft zu Ende bringen konnte, von welcher Emma bereits einen schlimmen Verdacht  hatte, sprach diese – der sorgenträchtigen Schwester zugewandt – mit aller Kraft und schluchzender Stimme:

Es ist, weil mein linker Schuh ein Loch hat und weil ich seit über einer Stunde eiskalte Füße habe. Und das tut so schrecklich weh, dass ich es gar nicht sagen kann; du blöde Kuh!

Nun war Emma um einiges leichter.

Und selbst die gestrenge Mutter sah über diesen heftigen Wutausbruch ihrer Tochter hinweg; was normaler Weise nicht geschehen wäre. Sie umarmte ihr Kind, und machte ihr ein heißes Fußbad.

Und das Missverhältnis der beiden Schwestern?

Es würde schon wieder in Ordnung kommen.

Irgendwann... 

 

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Der alte Grieche

Mathilde sah in  die  untergehende  Sonne eines vollkommenen Urlaubs-tages. Jetzt war sie schon die zweite Woche auf dieser griechischen Insel, und es zog sie immer noch am Abend an das Ufer des Meeres, das direkt vor ihrer Bungalowtüre lag. Wo sonst könnte ein Sonnenuntergang so glanzvoll, so imposant, so unbeschreiblich schön sein, wie am Meer.

Aber was war das? Mathilde bemerkte urplötzlich, dass sie etwas vermisste. Gerade wollte sie diesen, den Augenblick alles dominierenden, Vorgang eines Sonnenuntergangs gefühlsmäßig auskosten, als sie bemerkte, dass es nicht ging. So sehr sie auch in ihrer Seele herum kramte, sie konnte die Freude nicht finden. Und das Glück, die Zufriedenheit und die Zuversicht waren ebenfalls nicht auffindbar.

„Das ist ja furchtbar“, durchdrang es Mathilde, „das kann doch gar nicht sein!“

„Ich weiß genau, gestern war noch alles da.“ Sie durchsuchte ihre Seele wieder und wieder; aber es half nichts. All diese kostbaren Schätze waren wie in Luft aufgelöst. Eine tiefe Traurigkeit überkam Mathilde. „Wie soll es nur weitergehen ohne Freude, Glück, Zufriedenheit und Zuversicht?“, fragte sie sich, und ihre Augen bekamen einen feuchten Glanz…

In all ihrer Not fiel ihr die Großmutter ein. Sie hatte zu deren Lebzeiten viele Stunden bei ihr gesessen und hatte ihr zugehört, wenn sie wieder eine ihrer Geschichten erzählte. Damals hatte sie sicher nicht alles verstanden, weil sie ein Kind war, und die Denkweise der Erwachsenen noch weit weg von ihr war. Und als sie erwachsen war, hatte sie das Meiste von damals vergessen, weil die Denkweise eines Kindes inzwischen auch verkümmert war. Aber eines hatte sie nicht vergessen und das fiel ihr jetzt ein: Für jedes Häslein hat Gott ein Gräslein wachsen lassen, und für jedes Problem gibt es eine Lösung. Und wenn man sie allein nicht findet, dann muss man sich Verstärkung holen. Und der Stärkste und Mächtigste wohnt hoch droben in den Wolken.

Obwohl Mathilde sich in diesem Augenblick an den besagten  Spruch der Großmutter erinnerte, half er ihr nicht weiter. Wie sollte sie ihre verloren Schätzte je wiederfinden, wo sie noch nicht einmal wusste, ob sie sie einfach nur verloren hatte oder ob sie ihr gestohlen worden waren.

Mitten in diese Gedanken hinein setze sich eine hager Gestalt mit einem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht. Diese Gestalt hatte sich einfach neben Mathilde gesetzt, ohne um Erlaubnis zu fragen. „Unverschämter Kerl“, dachte Mathilde und sah sich ihren Nachbarn etwas genauer an. Als sie in sein Gesicht schaute und in die Augen des Mannes, bereute sie ihre Gedanken von gerade eben. Der „unverschämte Kerl“ war in einem sehr weit fortgeschrittenen Alter, das zu schätzen wohl nicht leicht möglich war. Der Kleidung nach ein Fischer; aber auf jeden Fall ein Einheimischer.

„Genießen Sie den Untergang der Sonne?“, sprach er sie an. Der Akzent des Mannes bestätigte Mathilde, dass es sich um einen Einheimischen handelte. Mathilde nickte stumm. „Wir hier auf der Insel sagen, dass sich die Sonne am Abend im Meer von der Last des Tages reinigt, um nach einer wohlverdienten Nachtruhe am Morgen wieder frohgelaunt ihrer Aufgabe zu widmen.“

„Das ist ein schöner Gedanke“, ging es Mathilde durch den Sinn, „der gefällt mir.“

„Sie sitzen da, und wohnen der Schönheit und dem Zauber des Augenblicks bei“, fuhr der Fremde fort, „aber der Glanz und das Leuchten spiegeln sich in ihren Augen nicht wieder.“ „Gefällt ihren Augen nicht, was sie sehen?“

„Doch, doch, entgegnete Mathilde eilig, aber ich habe momentan ein kleines Problem, das es mir unmöglich macht das Geschehnis angemessen wahrzunehmen.“

„Wollen Sie darüber reden?“

„Ich weiß nicht“, stotterte Mathilde sichtlich verlegen, denn sie wollte den Mann nicht brüskieren. „Ich kenne Sie doch gar nicht“, fuhr sie fort.

„Das ist doch wunderbar. Sie erzählen mir Ihre Geschichte und ich höre Ihnen einfach zu. Dann trennen sich unsere Wege wieder, und wir werden uns danach nie wieder sehen. Also, was meinen Sie?“

Mathilde sah dem Mann in seine warmen Augen, und dabei spürte sie, wie sich in ihr ein Zutrauen auftat, wie sie das, schon ewige Zeiten nicht mehr, bei einem Menschen verspürt hatte. Und ohne, dass ihr wirklich bewusst wurde, was sie tat, begann sie dem Fremden zu erzählen. Sie schilderte ihm, dass sie in letzter Zeit immer wieder einmal Freude, Glück, Zufriedenheit und Zuversicht verlegt hatte; sie aber jedes Mal wieder gefunden hatte. Nur heute, als vor ganz kurzem noch, als sie nach der Freude suchte, konnte sie sie nicht finden. Und die anderen Sachen waren ebenfalls verschwunden.

Der aufmerksame Zuhörer hatte Mathilde die ganze Zeit über angesehen, und Mathilde war seinem Blick nicht ausgewichen. Es versetzte sie einiger Maßen in Erstaunen; denn bei jedem anderen hätte sie, nach kurzer Zeit, sicher weg geschaut. Aber jetzt, im Gegenteil; sie fühlte sich wohl in den Augen des Fremden.

Dieser drehte den Kopf in Richtung Meer, dorthin, wo vor einigen Minuten noch die Sonne zu sehen war, und dann erzählte er Mathilde eine Geschichte. Und Mathilde war, als wäre sie wieder ein kleines Mädchen, säße bei der Großmutter, und hörte dieser zu. „Die Seele ist ein Behältnis, den der liebe Gott den Menschen geschenkt hat, damit diese alle ihre guten Gefühle aufbewahren können. Dazu gehören: Freude, Glück, Verliebtheit, Liebe, Hoffnung, Zufriedenheit, Zuversicht und ähnliches. Außerdem gehören auch dazu: Trauer, Schmerz, Sorge, Mitleid, Hilfsbereitschaft und ähnliches. Dabei gilt es aber zu  unterscheiden zwischen flüchtigen und anhaltenden Gefühlen. Flüchtige Gefühle sind in erster Linie die Freud, das Glück und die Verliebtheit. Man will uns Menschen immer den Zustand ständiger Freude, dauernden Glücks und ewiger Liebe vermitteln. Das ist aber ein großer Irrtum, oft sogar eine vorsätzliche Lüge. Freude und Glück sind immer nur Augenblicke, mal kürzer - mal länger; aber nie von Dauer. Vielleicht sind sie deshalb auch so kostbar. Sie sind wie ein Schmetterling, der sich kurz niedersetzt, um gleich wider weiter zu fliegen. Und so, wie man einen Schmetterling erdrücken würde, wollte man ihn festhalten, so würden auch Freude und Glück zerstört werden, ließe man sie nicht – nach kurzem Verweilen - wieder weiterziehen, um irgendwann wieder einmal vorbei zu schauen. Und was die Liebe angeht, so ist sie, in ihrer flüchtigen Form, nur eine Liebelei, die irgendwann weiterziehen will. Die wahre Liebe zählt zu den anhaltenden Gefühlen, ebenso wie Trauer, Mitleide, Sorge und Schmerz, wobei die Länge des Andauerns sehr verschieden sein kann. All diese Gefühle liegen – in guter Ausge-wogenheit – in unserem Vorratsbeutel, den uns der liebe Gott geschenkt hat.

Jetzt gibt es aber eine Spezies von Schädlingen, die sich manchmal, still und leise, in unseren Seelen einnistet. Das sind die Kümmerlinge, die Zweiflinge, die Verzagerlinge und die Ohnhoffnunglinge. Diese kleinen Bösewichte fallen über die flüchtigen Gefühle her, die in unserer Seele gerade verweilen, um sie zu zerstören. Und wenn man diese Schädlinge nicht erkennt und bekämpft, dann steht man eines Tages da ohne diese kostbaren Schätze, die uns das Leben so lebenswert machen. Daher ist es ratsam, in gewissen Abständen nach dem Rechten zu sehen, und die Bestände der flüchtigen Gefühle zu überprüfen. Sinnvoll wäre auch die Seele gelegentlich zu desinfizieren. Ich empfehle da Jauchzen und Frohlocken in großer Demut und Dankbarkeit…“

Mathilde war wie gelähmt. Sie hatte die Geschichte gehört mit den Ohren eines Erwachsenen und dem Herzen eines Kindes, und sie hatte sie verstanden. Sie drehte sich um, um dem Fremden für diese schöne Geschichte zu danken; doch dieser war nicht mehr da. Mathilde muss so ergriffen gewesen sein, dass sie das Fortgehen des Mannes mit der schönen Geschichte gar nicht bemerkt hatte. Eigentlich wollte sie sich ja noch bei ihm bedanken; aber nun…

Mathilde beschlich ein irrer Gedanke. Ob das vielleicht die wiedergeborene Großmutter war, die ihr die Augen geöffnet hatte. Aber nein, das ging sich altersmäßig gar nicht aus. Wahrscheinlich war es nur ein alter Grieche, von denen man ja sagt, dass sie mit Weisheit gesegnet sein sollen. Aber dann war es bestimmt ein ganz, ganz alter Grieche…    

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Mortimer

„Bitte, entschuldigen Sie meine Verspätung.“

Ich sah in das Gesicht eines älteren  Herrn, das mich sofort gefangen nahm. Eine unbeschreibliche Wärme umfing  mich, ja  fast ein  Gefühl  der  Geborgenheit. Seltsam. Ich hatte das nicht erwartet.

„Warten Sie schon lange?“

Ohne lange nachzudenken, verneinte ich. Es war ein herrlicher Sommertag, nicht zu heiß, ein leises Lüftchen wehte und ich fühlte mich wohl.

„Warten wird sehr unterschiedlich empfunden“, fuhr der Fremde fort, „es ist wohl auch abhängig von Geduld und Ungeduld. Und es ist wesentlich, ob das, worauf man wartet, etwas Schönes oder etwas nicht so Schönes ist; ob man sich darauf freut oder ob man in ängstlicher Erwartung ist...“

„Da haben Sie wohl recht“, entgegnete ich dem Fremden, der sich zwischenzeitlich nieder gesetzt hatte.

“Aber nun bin ich da und ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung“, fuhr der Fremde fort.

Mortimer sah mich an mit seinem Lächeln und ich fühlte eine nie gekannte Ruhe in mir. Eigenartig, ich erkannte ihn sofort, ohne dass er sich mir vorgestellt hatte. Zugegeben, sein Name stand auf einem silbern glänzenden Namensschild, dass an der Brusttasche seines Sakkos angebracht war; aber ich hätte ihn auch so erkannt. Einfach so, aus dem Bauch heraus. Eine bemerkenswerte Erscheinung: ca. 1,87 groß, etwas untersetzt, graumeliertes Haar, gepflegtes Äußeres, die Augenfarbe schwer definierbar; dunkel eben. Sein Auftreten würde ich als galant bezeichnen wollen - eine Vokabel, die heutzutage eher unüblich ist – und seine Sprache als fein und über die Maßen Vertrauen erzeugend. Du lieber Gott, das klingt ja schon fast wie eine Liebeserklärung...

„Ich nehme an, Sie haben eine Menge Fragen an mich“. Mit diesen Worten riss mich Mortimer aus meiner geistigen Schwärmerei.

„O, ja“, entgegnete ich, noch leicht verwirrt.

„Dann fragen Sie; ich werde bemüht sein, so gut es mir möglich ist, Ihre Fragen zu beantworten.“

„Sind viele Menschen in Ihrem Heim?“

„Ja, wir sind ständig ausgebucht.“

„Verstehe, deshalb die langen Wartezeiten.“

„Das ist richtig; aber es gibt auch Ausnahmen.“

„Ausnahmen, wie habe ich das zu verstehen?“

„Nun, es gibt spezielle Fälle, wo ein rasches Handeln angesagt ist.“

„Sie meinen, wenn jemand besonders gute Beziehungen hat.“

„O, nein, das gibt es bei uns nicht; alle werden gleich behandelt.“

„Das soll ich glauben? Das fällt mir sehr schwer.“

„Und doch ist es so.“

„Na ja, reden wir nicht mehr darüber...“

„Was wollen sie noch wissen?“

„Wie sieht die Hausordnung aus, geht es sehr streng zu?“

„Nein, im Gegenteil, jeder tut das, was ihm gerade in den Sinn kommt. Unsere Bewohner kommen, ebenso wie Sie, aus einer Welt der Verbote und Anordnungen. Das hat ihr ganzes Leben bestimmt. Bei uns sind Ruhe und des Frieden wesentliche Bestandteile des Seins; fernab jeglicher Hektik.“

„Das klingt ja paradiesisch. Jetzt verstehe ich auch, warum Sie so lange Wartezeiten haben. Aber sagen Sie Mortimer, ich darf Sie doch so nennen?“

„Gewiss“

„Sagen Sie, warum gibt es doch einige, die sich mit Händen und Füßen dagegen wehren in Ihr Heim zu kommen?“

„Nun, das will ich Ihnen gern erklären. So eilig es die Alten haben, so unvorstellbar ist es für die Jüngeren. Sie haben Angst davor, etwas zu versäumen. Sie haben noch Wünsche und Pläne, die sie erfüllt sehen möchten. Es ist durchaus verständlich, dass die noch nicht in ein Heim wollen. Aber manchmal wird man nicht danach gefragt. Es gibt aber auch Jüngere, die draußen nicht mehr zu Recht kommen und die einfach Geborgenheit in unserem Heim suchen. Das sind dann die, von denen ich zuvor schon gesprochen habe. Wir sind zwar nicht sehr erfreut über deren Ansuchen; aber wir nehmen sie trotzdem auf.“

„Aber es gibt doch auch alte Menschen, die zu Ihnen wollen und deren Aufnahme Sie verweigern. Ich kenne einige Fälle aus meinem Bekanntenkreis.“

„Das ist richtig, hat jedoch seinen Grund. Das sind Menschen, die noch nicht alle Aufnahmeformulare beisammen haben. Da zieht sich das schon manchmal einige Monate hinaus; manchmal sogar Jahre.“

„Also ist es doch nicht ganz so einfach bei Ihnen aufgenommen zu werden.“

„Wie man es nimmt. Wie gesagt, es spielen einige Faktoren eine Rolle.“

„Welche zum Beispiel?“

„Wichtigstes Kriterium ist wohl die persönliche Bereitschaft, gepaart mit der nötigen Geduld, darauf zu warten, bis ein Heimplatz frei ist.“

„Und diese Kriterien habe ich erfüllt?“

„Ja, ohne Zweifel, und deswegen bin ich heute auch hier ums Sie abzuholen.“

„Das finde ich wirklich nett von Ihnen. Von mir aus kann `s losgehen.“

„Und Sie haben alles erledigt, was zu erledigen war?“

„Ja, Mortimer, ich habe alles geregelt. Ich habe mich von allen verabschiedet und ich freue mich auf meinen neuen Lebensabschnitt. Ich sehe es als ein Abenteuer, auf dessen Ausgang ich schon sehr gespannt bin. Was ich noch unbedingt wissen wollte ist, was mit den Menschen geschieht, die das Heim wieder verlassen müssen. Aber das können Sie mir ja unterwegs erzählen.“

Die Sonne schickte sich an in diesem Moment ihr Tagwerk zu vollenden. Ihr weiches Licht zauberte eine Stimmung, die zu beschreiben schwer bis unmöglich ist; man muss es empfinden. Ich sah in Mortimers Gesicht und ich bemerkte ein feines Lächeln in seinen Augen. Die Farbe seiner Augen war mir jetzt klar erkenntlich geworden; tief blau. So blau, wie die Farbe des Himmels in einer Höhe, wo sonst nur Astronauten hinkommen...

„So soll es sein. Nehmen sie meinen Arm und lassen Sie sich von mir führen. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich werde Sie sicher geleiten.“

 

„Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.“ Was ich Ihnen noch unbedingt sagen wollte, lieber Mortimer: ich habe mir den Tod immer ganz anders vorgestellt...“

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